Themen in der Werkstatt ROHLF
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Dieser Artikel wurde veröffentlicht in ISO Journal N° 25, März 2007
Die Durchschlagzungen, welche in Orgeln des 19. Jh. installiert wurden, kehren in neue Instrumente zurück. Ihre Entwicklung schreitet aber fort. Die Werkstatt Rohlf, in Anlehnung an Ernst Zacharias’ Untersuchungen am Tongenerator, fügte der neuen Orgel für die Marktkirche Hamburg-Poppenbüttel zwei "gewendete" Durchschlagzungen dieser Bauart hinzu.
 
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Die Durchschlagzungen der neuen Rohlf-Orgel für die Marktkirche in Hamburg-Poppenbüttel

Erstmals aus der Zeit um 1000 v. Chr. ist die Verwendung von Durchschlagzungen mit aufgesetztem Resonanzkörper im fernöstlichen „Sheng“ (auch „Mundorgel“ genannt) belegt, bevor diese im 18. Jh. auch in Europa Fuß fassten und zur Entwicklung von Harmonium, Mund- und Ziehharmonika sowie Orgelregistern (in der zweiten Hälfte des 19. Jh.) führten.
Die durchschlagenden Zungenstimmen, wie wir sie in den Orgeln des 19.Jh. finden, haben eine den aufschlagenden Zungen verwandte Wirkungsweise: die Frequenz ihrer Tonhöhe ist wesentlich bestimmt durch die Frequenz des Zungenblattes und unbeeinflusst durch veränderte Raumtemperatur.
Herr Ernst Zacharias, ehemals Ingenieur bei Hohner in Trossingen, benutzte das klassische Prinzip der Durchschlagzunge, um ein neues Instrument mit „gewendeten“ Durchschlagzungen zu entwickeln, "Claviola" genannt, bei welchem die Zungenfrequenz durch die Schallkörper- oder Becherlänge bestimmt wird, wie bei der Labialpfeife. („Der Zungengenerator – Eine neue Art der Durchschlagenden Zunge“ in ISO Journal N° 5, Juli 1999).
Die erste von uns im Jahr 1999 gebaute sogenannte „gewendete“ Zunge oder „Zacharias-Zunge“ dieser Bauart steht in der ev.-luth. Friedenskirche Eckenhaid bei Erlangen (ISO Journal N° 6, November 1999) auf einer gemeinsamen Windlade mit dem Labialpfeifenwerk und ist in beschränktem Umfang von 30-80 mmWS über einen auf die Balgplatte wirkenden Fußhebel in der Lautstärke zu variieren. Der besondere Reiz dieser Durchschlagzungen liegt in der dynamischen Verwendbarkeit durch Veränderung des Winddrucks bei gleichzeitig stabiler Stimmhaltung.

Dieses Register hat nun zwei Nachfolger bekommen, deren Charakteristika sich auf Grund unserer Forschungen grundlegend geändert haben. Diese beiden Register – Klarinette 8‘ und Saxophon 8‘ – wurden in der Marktkirche in Hamburg-Poppenbüttel aufgestellt (35 III/P, 2006 Orgelbau Johannes Rohlf), doch dieses Mal auf einer eigenen Windlade, mit separater Windversorgung und einem Winddruck von 0 bis 300 mmWS.

Projektdefinition
Die von uns angestrebte Weiterentwicklung führte zu folgender Aufgabenstellung: Bereitstellung stets ausreichender Windmenge bei stark unterschiedlichem Winddruck und mit eigener Windversorgung für die Durchschlagzungen. Der Winddruck wird durch unterschiedliches Gewicht auf der Balgplatte erzeugt, nicht durch Verkleinerung des Kanalquerschnitts. Die Winddruckveränderung erfolgt ohne Zeitverzögerung über das bewegliche Balggewicht, was kleine Balgmaße erforderderlich macht. Dieses Ziel wurde planerisch umgesetzt und mündete in die technische Anlage:
- Beide Register stehen in chromatischer Abfolge auf einer Schleiflade, die über der Balganlage hinter der Orgel installiert ist.
- Die Traktur zu diesem Hochdruckwerk ist abkoppelbar und greift in die Mechanik des davorstehenden III. Manuals, dem Schwellwerk, ein.
- Die Tonventile sind möglichst klein gehalten, um den Druckpunkt bei vollem Wind im Griff zu behalten.
- Eine Ventus-Windmaschine speist einen speziellen Schwimmerbalg. (Details siehe Zusammenfassung am Ende).

Besonderes Augenmerk galt dem Bau der Drossel, denn die Anlage hatte eine starke Neigung zum Tremulieren. Nach erfolglosen Versuchen mit „druckneutralen“ Drosseln, führte eine herkömmliche Rollendrossel zum Ziel.
Ursache des Tremolos war das relativ große Balggewicht auf kleiner Balgfläche, bewußt so angelegt, um mit wenig Bewegung möglichst viel Druckveränderung zu erreichen. Durch eine einzustellende Druckfeder, die die Beweglichkeit der Wippe, welche die Rolle steuert, direkt an der Achse abbremst, werden tremulierende Druckschwankungen im Windsystem vollständig abgedämpft.

Zungen
Charakteristik der „gewendeten“ Zunge ist der „verkehrte“ Einbau der durchschlagenden Zunge, d.h., die Zunge wird vom Winddruck aus der Stimmplatte herausgedrückt und erzeugt in der Folge eine stehende Welle im aufgesetzten Schallbecher.
Willkommener Nebeneffekt dieser Anordnung: diese Zungenpfeifen werden am tonangebenden Becher gestimmt und ein Nachstimmen bei Temperaturveränderung wie bei den Aufschlagzungen ist nicht erforderlich. Je nach Mensur der Becher gibt es nur eine gelegentliche Nachstimmung wie bei den Labialpfeifen. Ideal sind Messingzungen, die wir zum Großteil dankenswerterweise von der Fa. Hohner in Trossingen beziehen konnten. Diese Zungen zeichnen sich durch ihre präzise Fertigung aus, die durch die sehr genaue Einpassung der Zungen in die Stimmplatten eine leichte Ansprache ermöglichen. Zur Verwendung kamen Zungen für Bassmundharmonikas und Claviola-Zungen im Diskant.

Pfeifenwerk
Die Pfeifenkörper beider Register Klarinette 8‘ und Saxophon 8‘ sind aus Eichenholz gebaut. Die konischen Becher der Klarinette sind mit halber Becherlänge etwas länger als Lambda/4. Das zylindrische Saxophon mit quadratischem Querschnitt hat volle Becherlänge mit Lambda/2; aus Platzgründen ist es in der Mitte um 180° gekröpft und oben beidseitig offen (siehe Zeichnung auf Seite 4). Die Windführung erfolgt wie bei einer labialen Holzpfeife zunächst durch den Pfeifenfuß und den Kern. Die Zungen sind am unteren Becherende aufgeschraubt. Der Wind wird im ebenfalls aufgeschraubten „Vorschlag“ zur Zunge geleitet. Der Vorschlag hat jeweils quadratischen Querschnitt in Pfeifenbreite und ist fast genausolang wie die Bauhöhe der Pfeife. Das Luftpolster im ausgefrästen Vorschlag hat den gleichen Effekt wie ein bei Durchschlagzungen üblicher langer Stiefel.
Durch diese Bauweise konnte weitgehend auf Ledermembranen als Ansprachehilfe verzichtet werden. Lediglich die ersten 18 Töne jedes Registers wurden aus praktischen Gründen mit verkürztem Vorschlag und dann nötig werdenden Ledermembranen gebaut. 
Ein negativer Einfluß der Ledermembranen auf die Stimmhaltung konnte bei Versuchen nicht festgestellt werden, deren Einsatz ist unproblematisch. Als sehr vorteilhaft für die Stimmhaltung hat sich eine ausreichend große Fußbohrung erwiesen (siehe Mensurentabelle).

Verwendung
Eine erste akustische Kostprobe in der Öffentlichkeit war am Tag der Orgelweihe am 03.09.2006 zu hören. Sowohl solistisch wie auch im Gebrauch mit anderen Registern und zur Chorbegleitung waren die Hochdruckzungen mit Ihrem ausgeprägt kraftvollen und dynamischen Sound im voll besetzten Kirchenraum zu vernehmen. Was bis dahin klanglich nur ungefähr vorstellbar war, wurde beim Einweihungskonzert verwirklicht.
 

Zu weiterführendenen Informationen über diese Zungenstimmen sei auf die unten aufgeführte Literatur verwiesen.
 

Mathias Jung, März 2007

 Literaturverweise
- „Hat man Töne – Claviola von Hohner“ in: Instrumentenbau-Zeitschrift 11-12/1995, S.32ff (Ernst Zacharias)
- „Der Zungengenerator“: ISO Journal N° 5, Juli 1999, S. 63-68 (Anja Rohlf),
- „Die Zacharias-Zunge": ISO Journal N°  6, Nov. 1999, S. 40–43 (Johannes Rohlf)
- „Friedensspiel“ Klangbeispiele der Eckenhaider Orgel: CD Ambiente 1999 / ACD 9925 (Reinhold Morath)
- „Die Zacharias-Zunge in Eckenhaid“: Die Hausorgel, Heft 12/2001, S.32-34 (Mathias Jung)
- „Die dynamische Orgel“ in: Ars Organi Heft 1, März 2002, S.19-21 (Ernst Zacharias)
- „Register mit der gewendeten Zunge“: Die Hausorgel, Heft 13/2002, S.37ff  (Ernst Zacharias)
Saxophon 8‘
zylindrisch quadratische Becher mittig gekröpft, beidseitig offen mit Stimmblech
Zunge
Becher 
klingende
Länge
Becher
licht 
Holz-
dicke
Pfeifenlänge
= Bauhöhe
Fuß-
bohrung 
Stimmplatte
außen
Kontra A
C
2640
24 x 24
5
1365
15
58 x 22
A
1300
18 x 18
5
690
12
58 x 17
c‘
630
14 x 14
5
350
10
38 x 10
b‘
c‘‘
320
12 x 12
5
190
9
38 x 10
h‘‘
c‘‘‘
160
10 x 10
5
110
8
38 x 10

Klarinette 8‘
einseitig konische Becher mit Stimmblech

Zunge
Becher 
klingende
Länge
Becher
oben licht 
Holz-
dicke
Kern-
länge
Fuß-
bohrung 
Stimmplatte
außen
Kontra A
C
1580
24 x 72
5
45
15
58 x 22
A
780
18 x 54
5
40
12
58 x 17
c‘
375
14 x 42
5
35
10
38 x 10
b‘
c‘‘
180
12 x 36
5
30
9
38 x 10
h‘‘
c‘‘‘
85
10 x 30
5
30
8
38 x 10

Zusammenfassung der Eckdaten
 1. Hochdruckwerk mit zwei Registern auf Schleiflade und Windschweller von 0 bis 300 mmWS
 2. Balggewicht mit ca. 20 kg, kugelgelagert verschiebbar über separaten Schwelltritt.
 3. Separate Windversorgung mit Schwimmerbalg (80 x 30 cm) und Rollendrossel
 4. Spieltraktur angehängt an Schwellwerk (Koppel ein/aus)
 5. Ventilschlitzgröße auf C = 60 x 8 mm
 6. Becherlänge bestimmt die Tonhöhe
 7. Tonhöhe der gewendeten Zunge muß tiefer sein als die Becherresonanz: kleine Terz (300 cent) bei C bis ¼-Ton (50 cent) bei g‘‘‘.
 8. Stimmung bleibt über den ganzen Schwellbereich annähernd konstant.
 9. Tonabstand von Zunge zu Becher ergibt maximalen Stimmbereich.
10. Größerer Tonabstand verbessert Stimmhaltung und reduziert Lautstärke (Intonation).
11. Kleinerer Tonabstand ergibt schnellere Ansprache und größere Lautstärke (wichtig im Diskant).
12. Montage der Zunge mit ca. 1/10 Becherlänge Abstand vom Kern.

Seitenschnitt der Zungenpfeifen
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