Themen in der Werkstatt ROHLF
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Festschrift Timmendorfer Strand zur Einweihung am 14. Juni 1998, herausgegeben von der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Timmendorfer Strand.

Die Orgel in Timmendorfer Strand Die neue Orgel für die Ev.-Luth. Waldkirche

  • Konzept der neuen Orgel
Im Dezember 1995 erreichte uns ein Brief der Ev.-Luth. Kirchengemeinde, Timmendorfer Strand, mit welchem um die Abgabe eines Angebots für eine neue Orgel gebeten wurde. Grundlage für das Angebot waren die vom Orgelsachverständigen der Nordelbischen Kirche, Hans - Martin Petersen, ausgearbeiteten Ausschreibungsunterlagen, welche auch ein klangliches Konzept für die neue Orgel enthielten. Für uns bedeutete dies, auf Reisen zu gehen, um mit der Architektur und den akustischen Verhältnissen des Kirchenraums bekannt zu werden, um zu erfahren, welche klanglichen Erwartungen an die neue Orgel gestellt werden und wo die Grenzen des finanziellen Rahmens liegen. Zusammen mit dem Kirchenmusiker der Waldkirche, Jan Weinhold und dem Bezirkskirchenmusiker Martin West aus Eutin diskutierten wir noch offene Fragen für das Konzept der neuen Orgel, wodurch Klarheit für die Ausarbeitung eines Angebots und eines Prospektentwurfs erreicht wurde. Erfreulicherweise folgte im Juli 1996 die Unterzeichnung des Orgelbauvertrags zwischen der Waldkirchengemeinde und unsere Werkstatt im Seitzental (Neubulach bei Calw).

Die neue Orgel ist klanglich höchst ökonomisch angelegt. Die Disposition  enthält wichtige Grund- und Plenumregister wie die Principale von der 8-fuß Lage bis zur Mixtur und die Baßregister in der 16´, 8´ und 4´ Lage als tragendes Klanggerüst, Flötenstimmen wie Rohrflöte 8´, Gedackt 8´ und Rohrflöte 4´ für Begleitung und Solospiel, Farbregister wie Nasard 2 2/3´, Flageolett 2´ und Terz 1 3/5´ für wichtige Registrierungen in der Orgelliteratur des 16. bis 20. Jahrhunderts als auch zwei Zungenregister mit Aufgaben für Plenum - Farb- oder Soloregistrierungen, eine Trompete 8´ im Pedal und ein Dulcian 8´ im Manual. Um bei der relativ geringen Registerzahl den Umgang mit den beiden Manualen zu erleichtern, wurde für die beiden 4 - fuß Register, ein Principal (Octave 4´) und eine Flöte (Rohrflöte 4´), eine Technik eingerichtet, welche das wahlweise Austauschen dieser beiden Register zwischen den Manualen erlaubt (Wechselschleife). Die Orgel ist mit dieser Disposition maßgeschneidert für den Raum der Waldkirche.
Zu den (nur) 15 Registern  in der neuen Orgel auf der Empore kommen drei Register in dem Truhenpositiv, deren Aufgabe vor allem das Ensemblespiel ist.
Die Verpflichtung zum Bau eines klanglich und spieltechnisch hochwertigen Orgelinstruments hat nichts mit einer großen Registerzahl zu tun, eher im Gegenteil. Die Begrenzung der klanglichen Mittel erhöht die Wichtigkeit und Aussagekraft des einzelnen Registers, von dem um so mehr klangliche Güte erwartet wird.

Die Zahl und Art der eingebauten Register (siehe Disposition), die räumlichen Maße am Aufstellungsort und  die Innenarchitektur der Waldkirche, sind die formgebenden Faktoren für die Gestaltung des Orgelgehäuses. Die relativ geringe Höhe des Raums über der Empore und die zeltartige Holzdecke führten fast zwangsläufig zu einem flächigen Prospekt, wie wir ihn z.B. von den G. Silbermann - Orgeln in Frankenstein und Schloß Burgk kennen. Im sichtbaren Orgelprospekt befindet sich Pfeifenwerk des Principal 8´ (F - cis´) und der Oktave 4´ (C - A). Alle weiteren Manualregister stehen hinter den Prospektpfeifen, in Terztürmen geordnet.

Ein Stimmgang trennt das Manual- vom Pedalgehäuse. Balg und Windmaschine sind hinter der Orgel aufgestellt. Das Orgelgehäuse ist mit massiven Rahmen und Füllungen gebaut. Von den in Stufen angelegten Friesen über den Pfeifenenden sind vergoldete Leisten wellenförmig abgespalten. Wie die Windladen, der Balg und viele Mechanikteile, ist auch das Gehäuse von gewässertem Eichenholz gemacht, Eichenholz vom „Schönbuch“, einem Waldgebiet zwischen Tübingen und Herrenberg. Die äußere Oberfläche des Gehäuses ist mit der Hand verputzt. Das Eisen des Putzhobels bringt durch die sehr scharf geschnittenen Hobelspäne die Holzstruktur unverfälscht an die Oberfläche und hinterläßt zugleich durch seine feine Wölbung eine leichte Struktur, welche besonders bei seitlichem Lichteinfall allen Flächen eine eigene Lebendigkeit verleiht.

  • Klangbildung in der Orgelpfeife (Labialpfeife)
Die neue Orgel für die Waldkirche soll ihre Aufgaben in Gottesdienst und Kirchenkonzert erfüllen, zum Singen einstimmen, den Gesang der Gemeinde begleiten und darüber hinaus soll auf ihr ein großer Teil der abendländischen Orgelliteratur dargestellt werden . 
Eine sensibel funktionierende Tastenmechanik und gesund sprechendes Pfeifenwerk sind Voraussetzung dafür, die Artikulationskunst des Orgelspielers in feinsten Nuancen hörbar zu machen.

Wir sind uns dessen bewußt, daß unser aller Gehör ein höchst leistungsfähiges Organ und in seiner Wahrnehmung beispielsweise dem Auge weit überlegen ist. Deshalb ist es eine lohnende Mühe, alle am Orgelklang beteiligten Komponenten ohne Unterschied in die Klangplanung einzubeziehen:
Energiequelle für den Orgelklang ist der Wind, welcher je nach Anlage von sehr unterschiedlicher Qualität sein kann. In unserem Fall wird der Wind durch ein Gebläse erzeugt mit anschließendem Labyrinth und über einen Windkanal und eine Drosselklappe zu einem relativ großen Keilbalg geleitet, welcher hinter der 
Orgel aufgebaut ist. Von dort verbinden ihn zwei Kanäle von Eichenholz mit den Windladen der Manuale und des Pedals, welche die Pfeifen tragen. Die Größe des Balges, der Orgellunge, hat Einfluß auf seine Bewegungsweise beim Windverbrauch. 
Der Wind gelangt weiter über den Windkasten und das Tonventil in die Tonkanzelle, passiert die Registerschleife, erreicht den Pfeifenfuß und beginnt an der Kernspalte seine Arbeit der Tonbildung. Gegenüber der Kernspalte steht in genau bemessenem Abstand das Oberlabium, auf welches der Wind trifft und den Schneidenton erzeugt. Die Struktur der Kernspalte und die Entfernung zum Oberlabium (Aufschnitt) bestimmen seine Qualität. Der Schneidenton versetzt die Luftsäule  des Pfeifenkörpers in Schwingung, und das um so rascher und intensiver, je besser die Resonanzen von Luftsäule und Schneidenton übereinstimmen. Letzten Endes bestimmt aber die Frequenz der Luftsäule die Schneidentonfrequenz. Nun kann das Material, welches die Luftsäule umschließt, der Pfeifenkörper, den wechselnden Drücken der Luftsäulenresonanz nicht standhalten, beginnt auch zu schwingen und bringt die Materialresonanz ins Spiel, deren Qualität von der Art und den Wandungsdicken des Materials bestimmt wird. Ob Laub-, Obst- oder Nadelholz, Zinn, Blei oder eine Legierung, jedes Material schwingt hörbar anders. 
Über die Bauart der Orgelpfeifen, welche in Mikrobereiche hineinwirkt, wird die Qualität des Klanges sehr stark bestimmt, und wir haben in unserer Werkstatt durch die Pfeifenherstellung die besten Möglichkeiten der Klanggestaltung. Die Verwendung von Bleikernen und ausgedünntem Zinn für alle Metallpfeifen, von hochprozentigem Blei, Eichenholz und dünnwandiger Fichte für Flöten, sind neben dem Beachten ganz bestimmter Maße im Kernbereich einige Merkmale für den Bau der Pfeifen.
Die Kettenreaktion der Klangausbreitung hat an der Tonquelle der Orgelpfeife begonnen und es bildet sich nun ein Schallfeld in der Umgebung der Einzelpfeife. Dieses Schallfeld kann durch Nachbarpfeifen beeinträchtigt oder begünstigt werden, weshalb die Aufstellung der Pfeifen im Orgelinneren Bedeutung für den Gesamtklang hat. Aus diesem Grund ist die Terzaufstellung des Pfeifenwerks, wie wir sie auch an dieser Orgel vornehmen konnten, seit dem 15.Jh. geübte Praxis. Sie setzt allerdings einen baulichen Abstand zwischen den Klaviaturen und der Windlade zur Installation eines Wellenbrettes voraus.Rückseite der Festschrift
Luft in Nachbarpfeifen und im Orgelgehäuse beginnt zu schwingen, ein Schallfeld verbindet sich mit vielen anderen und erregt die Resonanz des Raumes im Orgelgehäuse und schließlich das Orgelgehäuse selbst.
Was akustisch geschieht, vom Pfeifenfuß und der Kernspalte bis zur Orgelgehäusewand, ist höchst komplex und mit Worten schwer zu beschreiben. Und dennoch handelt es sich nur um bewegte Materie, um schwingende Luft, schwingendes Material.
Nun sind von Seiten der Orgel die Möglichkeiten zur Klanggestaltung erschöpft und das klingende Produkt ist 
des weiteren auf den Raum und seine akustischen Verhältnisse angewiesen. Unser Gehör nimmt ja nicht Orgel pur, sondern den durch den Raum veränderten Klang wahr, und so wirken für uns letztlich Instrument und Raum gemeinsam als Klangquelle.

  • Dank
Der Bau dieser Orgel war für unsere Werkstatt eine reizvolle Aufgabe, und wir hoffen und wünschen sehr, daß sie mit ihrem Klang zur Arbeit am Instrument motiviert, die kirchenmusikalischen Aktivitäten bereichert und immer gern gehört wird.
Im Namen meiner sechs Mitarbeiter, Manfred Zeller, Peter Eckert, Friedemann Seitz, Tobias Merkle, Tudor Roberts, Markus Eßer, der während der Bauzeit dieser Orgel Mathias Jung vertrat, welcher sich im Meisterkurs befindet, und meiner Frau möchte ich der Ev. - Luth. Kirchengemeinde Timmendorfer Strand für das uns entgegengebrachte Vertrauen danken, und wir wünschen viel Freude an der neuen Orgel.
  • Im Text benutzte Fachausdrücke:
Aufschnitt
Öffnung oder Mund zwischen Ober- und Unterlabium der Orgelpfeife.
Drosselklappe
Ventil zwischen Windmaschine und Balg, welches über die Stellung der oberen Balgplatte die Windzufuhr Reguliert. Bei vollständig mit Wind gefülltem Balg ist das Drosselventil oder die Drosselklappe geschlossen.
Keilbalg
Lunge der Orgel als sich einseitig öffnender Balg mit meist einer Falte zwischen zwei Platten. Die Falte ist an der Längsseite des Balges aus keilförmigen  Brettern gemacht, an der Stirnseite sind es parallele Bretter, welche mittels Schafsleder untereinander und mit den Balgplatten verbunden sind. 
Kern
Wie die Blockflöte den Block, so besitzt die Holzpfeife den Kern von Holz und die Metallpfeife eine Metallplatte als Kern, jeweils als unteren Abschluß des Pfeifenkörpers. 
Kernspalte
Spalt zwischen Kern und Unterlabium an der „Labialpfeife“, welcher den Luftstrom, den Wind, zielgerichtet zum Oberlabium lenkt.
Klaviatur
Tastenreihe, für die Hände Manual - und für die Füße Pedalklaviatur genannt.
Labialpfeife
Orgelpfeife, bei welcher der Ton über ein, zwischen Unter- und Oberlabium, schwingendes Luft- bzw. Windband erzeugt wird.
Luftsäule
Im Pfeifenkörper eingeschlossene Luft.
Materialresonanz
Durch Luftschwingung angeregtes und mitschwingendes Holz, Zinn oder Blei. 
Oberlabium
Die obere Abgrenzung des Aufschnitts, welche bei der, im Querschnitt runden, Metallpfeife zu einer Fläche gestaltet ist.
Orgelprospekt
Die sichtbare Frontseite einer Orgel, das Orgelgesicht.
Pfeifenkörper
Langgestreckter Hohlraum, aus Holz mit quadratischem oder rechteckigem Querschnitt, aus Metall mit rundem Querschnitt, dessen Form die Klangfarbe und dessen Länge die Tonhöhe einer Orgelpfeife bestimmt. 
Prospekt
siehe Orgelprospekt
Prospektpfeifen
Im Orgelprospekt sichtbare Pfeifen, welche in der Regel besonders schmuck gemacht sind.
Register
Pfeifenreihe gleicher Bauart und Klangfarbe, von z.B. groß C bis g³, je nach Klaviaturumfang. Ein Register ist vergleichbar mit einem Musikinstrument. Es besitzt je Taste eine Orgelpfeife. Hätte eine Orgel 2 Register, fielen auf jede Taste zwei Pfeifen.
Registerschleife
Ventil zum Ein- bzw. Abschalten eines Registers. Die Registerschleife, eine lange Holzleiste mit ebensoviel Bohrungen, wie das Register Pfeifen hat, ist auf mechanischem Weg mit dem Registerzug, dem Registerknopf verbunden. Beim Ziehen oder Abstoßen des Registers schleift  diese Leiste zwischen Windlade und Pfeifenstock (letzterer trägt die Pfeifen), woher sie und dieses Funktionsprinzip überhaupt ihren Namen bekam: „Schleifladenorgel“. 
Schallfeld
Resonanz des Luftraumes, welcher die klingende Pfeife umgibt, vergleichbar mit den Ringen auf der Wasseroberfläche nach einem Steinwurf.
Schneidenton
Eine in der Tonhöhe definierbare Resonanz des Windbandes, welches zwischen Kernspalte  und Oberlabium, also im Aufschnitt  schwingt und in der Folge die Luftsäule im Pfeifenkörper erregt.
Terzaufstellung
Die Pfeifen eines Register werden in einer bestimmten Abfolge auf der Windlade angeordnet. In einer kleinen Orgel, dem Positiv oder der Truhenorgel stehen die Pfeifen aus bautechnischen Gründen chromatisch, also halbtonweise nebeneinander. Das Pfeifenwerk kann geteilt werden, wie der Orgelbauer sagt, in C- und Cis-Seite. Dann stehen die Pfeifen in Ganztönen nebeneinander (C, D, E, Fis, Gis, B). Akustisch noch günstiger ist eine weitere Teilung dieser Seiten, wodurch die Pfeifen dann in großen Terzen nebeneinander stehen (C, E, Gis und D, Fis, B). 
Tonkanzelle
Windraum zwischen Tonventil und Registerschleife, welcher für den jeweiligen Ton alle Register miteinander verbindet. Tonventil
Ventil in der Windlade, welches auf mechanischem Weg mit der Taste verbunden ist. Die Taste ist das verlängerte Tonventil. Die Bewegung von Taste und Tonventil sind stets identisch.
Unterlabium
Labium am Pfeifenfuß, bei der im Querschnitt runden Metallpfeife zu einer Fläche gestaltet, welche als Gegenüber zum Kern  die Kernspalte bildet. 
Wellenbrett
Eine bereits im 13. Jahrhundert erfundene, mechanische Einrichtung zur Vergrößerung der Klaviaturteilung, der schmalen Klaviaturmaße auf die ganze Orgelbreite. Meistens ist es ein trapezförmiges Brett, welches Mechanikwellen, Holz- oder Metallstäbe mit jeweils zwei Ärmchen, trägt. Ein Ärmchen ist mit dem Tonventil verbunden, das zweite mit der Taste. 
Wind
Im mit Steinen belasteten Balg verdichtete Luft zur Versorgung der Orgelpfeifen.
Windkanal
Im Querschnitt quadratische oder rechteckige, hölzerne Verbindung zwischen Balg und Windlade zur Übertragung der Luftverdichtung.
Windkasten
Teil der Windlade, welcher die Tonventile beherbergt und in welchem der vom Balg kommende Windkanal mündet. Windlade 
Herz und Funktionszentrum der Orgel. Die Windlade trägt die Orgelpfeifen, zur Windlade hin wird der Wind des Balges geleitet, in der Windlade befinden sich die vom Organisten gesteuerten Ton- und Registerventile.
Zungenpfeife
Orgelpfeife, bei welcher der Ton durch eine Messingzunge erzeugt wird. Funktionstechnisch gibt es in der Orgel zwei Arten der Tonerzeugung, die der oben beschriebenen Labialpfeife mit tonerzeugendem Schneidenton und die der Lingual - oder Zungenpfeife mit tonerzeugender Messingzunge. Bei der traditionellen Zungenpfeife schlägt die aufgeworfene Zunge auf eine fest stehende Kehle (Tonerzeugung der Klarinette). Der Ton der Zunge erregt die Luftsäule im Schallbecher.
Johannes Rohlf

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