Themen in der Werkstatt ROHLF
Ein Gespräch mit Johannes Rohlf
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( auch abgedruckt in der Firmenbroschüre )
Unsere Identität im zeitlichen Wandel

Reinhold Morath (R.M.): Herr Rohlf, anlässlich einer Orgelbauertagung schrieb einer Ihrer jungen Kollegen über Sie: "Bei der Besichtigung der Orgel in Baden-Baden und dem anschließenden Besuch seiner Werkstatt ... kamen mir ... zwei Schlagworte ... in den Sinn: 'Orgelbau ist Teamwork' und 'du sollst deine Freude am Orgelbau mit deinen Angestellten teilen'. Herr Rohlf ... hat ein sehr beeindruckendes Beispiel dafür abgegeben, und ich habe gedacht, dieser Mann ist fair zu sich selbst, zu seinen Mitarbeitern und unserem Handwerk."
( Jens Rehbock: ISOnews No 8-9/94, S.24 )

Johannes Rohlf (J.R.): Es ist schön, wenn andere einen so sehen, wie man selbst sich und sein Handwerk versteht. In den 36 Jahren selbständiger und selbstverantwortlicher Arbeit stand die Orgel immer voran.
Wir sind ein Team von jetzt 9 Orgelbauern, darunter 5 Meister und auch Bundes- und Landessieger im Orgelbauerhandwerk. Für mich steht fest - was übrigens auch die moderne Wirtschaftsforschung bestätigt -, dass eine Arbeitsatmosphäre, in der Anerkennung und Vertrauen herrschen, zu höchsten Leistungen führt. Wenn es uns ernsthaft um das Thema Orgel geht, müssen wir täglich die Frage nach dem gültigen Wesen der Orgel stellen und für uns auch beantworten.

R.M.: Es gibt heute z.T. recht unterschiedliche Vorstellungen für die klangliche, technische und architektonische Gestaltung einer Orgel. Auf der einen Seite stehen die Organisten, die sich ein Instrument wünschen, auf dem sie möglichst alles spielen können, und auf der anderen Seite soll der Orgelbauer diese Vorstellungen realisieren. Was heißt für Sie - Identität der Orgel?

J.R.: Eine Orgel, die alle Stilepochen gleich gut authentisch interpretieren lässt, gibt es nicht. Diese Einsicht setzt sich mittlerweile durch. Man muss seinen Platz zwischen Tradition und Fortschreiten suchen. Im Prinzip hat die Orgel bereits in der Renaissance ihre Gestalt gefunden.
Welch prächtige, reich disponierte und handwerklich gekonnt gemachte Instrumente wurden bereits im 17. Jahrhundert gebaut: Ich denke etwa an die 1659 fertig gestellte Stellwagen-Orgel der Marienkirche von Stralsund mit 51 Registern auf drei Manualen und Pedal mit einer Prospekthöhe von über 20 Metern.
Geschickte Mechaniken, durchdachte Windanlagen und akustisch vorteilhafte Aufstellungen des Pfeifenwerks führten an vielen Orten im 18. Jahrhundert zu wohlproportionierter Architektur der Gehäuse und prächtigen Orgelklängen.
Identität der Orgel - das ist für uns das eindeutige, begründbare Konzept für den Klang, die Architektur und die Funktion des Instruments.

R.M.: Heißt das, dass wir eher Kopien historischer Vorbilder bauen sollen?

J.R.: Wenn Kopieren in diesem Zusammenhang heißt, ein täuschend ähnliches Instrument bauen zu wollen, wäre das Erstarrung. Wir leben in der Gegenwart, mit reicher Tradition und der Verpflichtung, sie zu wahren, denn sie allein gibt uns Sicherheit für den nächsten Schritt. Eine täuschend gleiche Kopie kann es ohnehin nicht geben, denn wir arbeiten mit unserem Kopf, unseren Händen und unseren Werkzeugen.
Heißt kopieren aber, verlorenes Wissen zurückgewinnen und Erfahrung zu nutzen, macht es Sinn. Jedes neue Orgelkonzept braucht einen Orientierungsrahmen - stilistisch in Bezug auf die Epoche, um deren Ästhetik in die Gegenwart zu holen, zum anderen natürlich im Blick auf die Qualität. Hier gibt es für mich keine Kompromisse, das fängt schon mit der richtigen Auswahl der Hölzer, deren natürliche "Vorbehandlung" und Lagerung an.
Vom Mittelalter bis in unsere Zeit hinein wurden im Orgelbau beachtliche Fachkenntnisse erworben, die uns Maßstab für die aktuelle Arbeit sind. Dem unbekannten Künftigen begegnen wir mit Neugier.

R.M.: Sie sind 50 Jahre im Orgelbau tätig, 36 Jahre nunmehr selbständig mit einer eigenen Werkstatt. Da kommt eine Fülle an Erfahrung mit dem Erbe zusammen. Und wenn man sie besucht, sieht man immer wieder Orgelbauer-Kollegen, die sich in Ihrer Werkstatt umsehen und Ihren Rat suchen. Können Sie Ihre "Orgel-Philosophie" noch näher umschreiben?

J.R.: Wir möchten lebendige Orgeln bauen, keine Maschinen, auch wenn in der Geschichte der Orgel deren Technik immer wieder faszinierte. Für uns ist die Orgel in erster Linie ein Musikinstrument, das der Musiker zur Darstellung seiner Kunst annimmt, wie jedes andere akustische Musikinstrument. Er nutzt physikalische Gegebenheiten der Natur, um Bewegung und Kraft, Intelligenz und Emotion in Klang und Hörgenuss zu verwandeln. Die Orgel soll sich nicht selbst produzieren - mittels installierter Automatik - sie soll den augenblicklich empfundenen Gedanken des Musikers widerspiegeln. Diese Haltung zum Orgelinstrument ist unser Leitfaden für das eigene Handeln und eine für alle Orgeltypen gleichermaßen geltende Orientierung.
Natürlich, die Spannweite vom Organetto mit 24 Tasten bis zur Orgel mit 50 Registern ist sehr groß.
Unsere Zuneigung gilt aber der Orgel, die Musikinstrument sein darf und nicht Maschine sein muss.
Die Technik muss so funktionell, einfach und sicher sein, dass sie eher zur Nebensache wird. Der Weg dorthin, wie auch zu akustisch günstigen Konzepten, führt über die Urbilder, beispielhaft zu finden an historischen Orgeln. Sie lehren uns, warum etwas wie gemacht werden muss. Z.B. der Umgang mit Masse für die Tastenmechanik, das Ausdünnen von Zinn und Blei und die Terzaufstellung für den Klang, und der Bau einer richtigen "Lunge", von Keilbälgen für einen natürlichen Wind, sind von frühen Vorbildern abzulesen.
Entscheidungen aber für Maße und Mensuren sollen durch die Befragung des Baukonzepts der Orgel selbst beantwortet werden.
Das sind nur einige von vielen Details, auf die es ankommt, wenn der Orgelklang seine ganze Schönheit entfalten soll.

R.M.: Viele Orgelbauer lassen sich Einzelteile, v.a. auch Pfeifen, von darauf spezialisierten Firmen zuliefern. Weshalb stellen Sie alle Einzelteile der Orgel, sieht man vom Elektrogebläse ab, selbst her? Tun Sie das aus ideologischen Gesichtspunkten heraus?

J.R.: Ich habe dabei allein die Orgel als individuelles akustisches Musikinstrument im Sinn. Es gehört zum Wesen der Orgel, dass sie sich von jeder anderen unterscheidet und unterscheiden soll, natürlich auch vom Klang, dessen Güte in letzter Instanz durch unser hoch sensibles Gehör beurteilt wird. Und das lässt sich nichts vormachen.
Verständlicherweise kann man am stärksten mit dem Pfeifenbau Einfluss nehmen auf den Orgelklang, weshalb die Orgelpfeifen nach allen Regeln der Kunst gebaut sein müssen. Nur beim Pfeifenmachen in eigener Verantwortung werden Maße und die Gestaltung im Detail optimal verwirklicht. Zugleich stößt man auf wichtige Fragen, die mit dem Delegieren des Pfeifenbaus verschüttet bleiben. Die Klanggüte der Orgel wird weiter durch das Gesamtkonzept, durch die Windversorgung und die Wendigkeit der Mechanik mitbestimmt, woraus zu schließen ist, dass bei einem hochwertigen Orgelinstrument die Kontrolle bei der Fertigung keine Lücken haben darf. Nicht Gründe der Ideologie sondern allein Gründe der Qualität in allen Teilbereichen des Orgelbaus spielen für mich dabei eine Rolle.
Eine unter vielen Fragen ist z.B. die nach dem Pfeifenmaterial. Wir bauen Orgelpfeifen aus Eichenholz, Birnbaum und Fichte, aus hochprozentigem Zinn, Zinn-Blei-Legierungen und Blei.
Was spricht für eine hochprozentige Bleilegierung und was dagegen? Blei ist ein sehr schweres Metall mit dadurch hohem Dämpfungsfaktor bzw. geringer Eigenresonanz. Durch seine Resistenz gegen aggressive Luft wurde und wird es an Orten mit See- und vulkanischer Schwefelluft bevorzugt eingesetzt (Norddeutschland, Süditalien).
Den Pfeifenklang betreffend hat Blei hervorragende Eigenschaften. Es lässt im Spektrum den Grundton besonders gut zur Geltung kommen aber auch die Charakteristik des "Schneidentons", der Frequenz am Labium. Es ist ein weiches Material, das nur dann, wenn wir eine hochprozentige Legierung (98 %) mit geringen Anteilen von Kupfer, Zinn, Wismut und Antimon herstellen, standfest wird, wie unsere Testreihen zeigen.
Durch "Ausdünnen" der Platten für die Pfeifenkörper wird die Statik noch weiter verbessert. Zum Gießen braucht man wohl etwa 1000C höhere Temperatur gegenüber Zinnlegierungen und es gibt keinen nutzbaren Übergang zwischen flüssigem und festem Zustand wie bei Legierungen mit höherem Zinnanteil. Beim spanabhebenden Bearbeiten neigt es zum "Schmieren oder Kleben".
Doch der Mehraufwand lohnt sich, denn er führt zu besten klanglichen Ergebnissen.

R.M.: Wie setzen Sie die Prioritäten bei der Planung einer neuen Orgel?

J.R.: Erstes Gebot ist die architektonische Einheit zwischen Raum und Instrument. Am Äußeren wird das Innere sichtbar. Die Identität des Instruments und die Einheit mit dem Raum müssen architektonisch und klanglich zusammenkommen.
Zweitens soll das Gesamtkonzept vor allem dem Klang dienen.
Drittens hat bei uns die dem Musikinstrument Orgel dienende Ausstattung und Ästhetik immer Vorrang gegenüber maschinenartigen und automatisierenden Einrichtungen.
Viertens wird Sicherheit der Funktion durch Einfachheit erreicht.
Und fünftens gilt die Erfahrung, dass sich Ästhetik und Ökonomie wechselseitig begünstigen - eben im Sinne sparsamen Einsatzes von Gestaltungsmitteln.

R.M.: Sehr häufig erlebt man heute, dass ambitionierte Organisten sich für "ihr" Instrument Klangfarben aus anderen historischen Orgeln zusammensuchen. Man möchte die Trompette nach Cliquot, die Mixturen nach Riepp, das Schwellwerk nach Cavaille-Coll und die Vox humana nach Gabler haben. Viele Orgelbauer versuchen diese Wünsche durch Übernahme bestimmter Mensuren und durch entsprechende Intonation zu erfüllen. Was machen Sie in solchen Fällen?

J.R.: Das Thema Intonation können wir nicht abgelöst vom Bau der gesamten Orgel sehen. Und es macht wenig Sinn, gewünschte Klangfarben alleine auf Grund des Zurechtintonierens in einem womöglich anderen technischen Grundkonzept zu verwirklichen.
Es ist das Ziel unserer Orgelplanung, im Vorfeld sehr genaue Maße, Mensuren und Baupläne zu erstellen, so dass Orgelbau und Intonieren weitgehend Verwirklichung dieser Pläne bedeutet. Das heißt, dass in den meisten Fällen Schallmessungen im Raum durchgeführt werden müssen.
Es leuchtet ein, dass ein angestrebter Klang am genauesten erreicht wird, wenn von vornherein auf die dafür notwendigen Konstellationen und Endmaße hingearbeitet wird. Man erreicht mit der Intonationsarbeit immer am meisten, wenn nicht entgegen dem vorgegebenen Material gearbeitet werden muss, sondern das vorgegebene Material optimiert wird. Intonieren ist so ein Zu-Ende-Führen der geplanten Arbeit.
Bei dieser dem Ziel aller Mühen geltenden Endarbeit, muss man dazu bereit sein, ebenso an Windführungen oder der Mechanik zu arbeiten, wie am Pfeifenwerk. Beim Intonieren werden Klang und Funktion zusammengeführt. Ich kann beim Intonieren dem richtig gebauten Pfeifenwerk nichts an Kraft und Fülle hinzugeben, sondern immer nur wegnehmen.
Das Ziel darf nicht die nivellierte Reihe sein, welche ohne Würze und Charakter das Gehör langweilt, sondern es geht um das Bewahren von Individualität jedes einzelnen Tones zu Gunsten der gemeinsamen, charakteristischen Reihe. Dazu muss ein Register bereits entsprechend der erwarteten Klangfunktion gebaut sein und am richtigen Ort in der Orgel stehen. So, wie die handwerklichen Fertigkeiten für den Umgang mit Holz und Metall und Kenntnis der Akustiklehre selbstverständlich vorhanden sein müssen, so ist auch ein Austausch mit den Musikern unumgänglich, und zwar bevor die Orgel im Detail geplant wird. Wir müssen im Vorfeld wissen, was die Orgel klanglich und technisch leisten soll in puncto Literaturspiel, Liturgie und Improvisation.
Wünsche der Organisten können beflügeln. Allerdings gibt es kein Konzept, das nicht auch hätte anders aussehen können. Ist es Realität geworden, beginnt die Kunst des Orgelspielers, mit den Vorgaben im richtigen Verständnis umzugehen.

R.M.: Ihre bislang größte Orgel in Baden-Baden zählt "nur" 31 Register. Freilich sind Ihre Instrumente klanglich immer grroß; charakteristisch in den Einzelstimmen und im Pleno äußerst raumfüllend. Gelten Sie zu Recht als Spezialist für kleine Orgeln?

J.R.: Ja und nein. Meine Selbständigkeit begann mit Arbeiten für eine österreichische Orgelbaufirma und war an den Stuttgarter Raum gebunden, in dem es bereits viele Orgelbauer gab und gibt. Ich entdeckte aber eine Marktlücke: den Bau von kleinen Orgelinstrumenten aller Arten. Dieser war durch den Kirchenbau-Boom der 60er Jahre in den Hintergrund geraten. So besuchte ich Instrumentensammlungen in Nürnberg, Berlin, München, Basel, Paris, Brüssel und Den Haag, um informiert zu sein. Durch das Wachsen der Kenntnisse im Bau von kleinen Orgeln wuchs auch das Interesse daran. Die große Kirchenorgel liegt uns natürlich nach wie vor ebenso am Herzen.
Ob groß oder klein, wir arbeiten für ein jeweils optimales Energie-Leistungsverhältnis. Die Anlage des Gesamtkonzepts soll so effizient als möglich sein. Aus dem Wissen heraus, dass sich Register untereinander Resonanzraum und auch Energie entziehen, gehen wir mit der Registerzahl sparsam um. Entsprechend seiner Bauart soll jedes Register unverfälscht klingen, das sagen dürfen, was es sagen möchte. So entstehen Einzelstimmen mit Ausdruckskraft, welche das Registrieren zum Erlebnis machen.

R.M.: Nun bedarf es ja etwa bei einer Orientierung an der Romantik auch eines eher lückenlosen Anwachsens des Klangs, was durch zu charakteristische Einzelstimmen behindert wird. Wie gehen Sie damit um?

J.R.: Natürlich zeichnet sich die romantische Orgel besonders durch ihre Crescendofähigkeit aus. Die Charakterstimme steht nicht allein, sondern ist bestenfalls Zielpunkt der Nuancierungen. Register müssen als Gruppen in unterschiedlicher Lautstärke mehrfach vorhanden sein, damit dynamische Wirkungen erzeugt werden können. Die romantische Orgel benötigt also eine größere Registerzahl und am besten auch eine druckpunktfreie Traktur, die das allmähliche Niederdrücken der Taste ermöglicht. Wie gesagt hindert jedes Register das andere an der Klangentfaltung, wodurch letztlich aus akustischen Gründen nicht mehr alles, was eine Charakteristik ausmacht, präsent bleiben kann. Neben Schattierungen bei der Intonationsarbeit sorgt also auch schon die Vielzahl der Orgelregister für Verschleierung. Die feinen Crescendostufen vom Pianissimo bis zum Fortissimo sind das Elixier der romantischen Orgel. Sie lebt dadurch, wie die frühere Orgel durch die Charakterstimme. Wird dennoch eine gewisse Deutlichkeit mancher Einzelstimme als Wert betrachtet, hat die romantische Disposition mit 55 Registern klangliche Vorzüge gegenüber der mit 99 Registern. Hörer und Spieler sind dem Instrument näher, wenn ökonomisch gebaut wird.

R.M.: Die Orgel ist ein Blasinstrument, das mittels Tasten gespielt wird. Das heißt, dass dem Wind, der Luft, dem Atmen große Bedeutung zukommt. Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass über den Orgelwind, seine Stabilität und Labilität unter Organisten wie unter Orgelbauern ständig diskutiert wird?

J.R.: Das Windproblem durchzieht wie ein roter Faden die gesamte Orgelbauliteratur und jede Orgelprobe widmete sich besonders auch dieser Frage, weil oft eine zu ausgeprägte Windcharakteristik, Windstößigkeit oder falsche Maße an Windführungen das Spiel beeinträchtigten.
Nun hatte man Anfang der 50er Jahre durch den Einbau von Windladenbälgen endlich ein Windsystem entdeckt, das für jeden Bedarf stoßfreien, glatten Wind lieferte. Man glaubte, damit für die Zukunft jedes Windproblem gelöst zu haben.
Aber erst diese Erfahrung lehrte, dass die Orgel bei der Anwendung dieses Systems lebloser, starrer und härter klang. Eine zuvor vorhandene natürliche Lebendigkeit war eliminiert. Das Thema wird also wieder behandelt und inzwischen kümmern sich auch Universitätsinstitute um diese Frage. Sie bleibt uns erhalten und mit ihr das komplexe Gebiet der Strömungsphysik im Orgelwindsystem. Es bleibt uns deshalb erhalten, weil in der Praxis fast jede Orgel mit anderen Konstellationen arbeiten muss und jede geringste Änderung am System neue Situationen schafft.
Wir legen bei unseren Instrumenten großen Wert auf eine lebendige Lunge. Schließlich ist das menschliche Gehör dazu in der Lage, feinste Veränderungen in der Tonbildung und im stationären Klang wahrzunehmen. Eine natürliche, ruhige Windströmung mit feinen Unebenheiten verschafft dem Gehör Reize, welche durch den maschinenartig stabilen Winddruck der Windlagenbälge nicht zu haben sind. Einen idealen Wind können die klassischen Keilbälge liefern, sowohl handgeschöpft, als auch im Zusammenhang mit der modernen Windmaschine.
In jedem Fall sollte die ganze Orgel mit allen Teilwerken eine gemeinsame Lunge und somit einen einheitlichen Winddruck haben. Ausnahme ist hier allein die große sinfonische Orgel für einen großen Kirchenraum, die mit erhöhtem Winddruck für den Diskant arbeitet. Aber auch hier müssen alle Komponenten aufeinander abgestimmt sein.

R.M.: Ein weiterer Streitpunkt ist die ungleich-schwebende Temperierung der Orgel, die sich v.a. für historisierende Instrumente durchgesetzt hat.

J.R.: Ein Tasteninstrument, jedes Klavier, muss sich innerhalb einer Oktave mit 12 Halbtonschritten begnügen. 12 Halbtonschritte sind viel zu wenig, um damit in allen Tonarten reine Intervalle spielen zu können, reine Quinten und reine Terzen.
Pythagoras bereits ermittelte die Differenz, welche sich aus dem Übereinanderschichten von 12 Quinten und daneben 7 Oktaven ergibt. Beim Klavier gelangt man, beim gleichen Ton begonnen, zur gleichen Endtaste. Über reine Intervalle dagegen gelangt man zu zwei unterschiedlichen Tonhöhen, deren Differenz seither das "Pythagoreische Komma" heißt. Die moderne, gleichstufige "Temperatur" teilt das pythagoreische Komma in zwölf gleiche Teile und verteilt sie auf die zwölf Quinten des Quintenzirkels. Somit sind alle Halbtonschritte gleich groß (100 cent), aber es gibt dadurch kein einziges reines Intervall. Jede Quinte ist um 2 cent zu klein und jede große Terz um sage und schreibe 14 cent zu groß. Bei einer nach Gehör gelegten gleichstufigen Temperatur entstehen aber Abweichungen von bis zu 4 cent (eine nach Gehör gestimmte Temperatur kann nie eine Präzision von 12. Wurzel aus 2 erreichen).
Deshalb wurde bis zur Anwendung des elektronischen Stimmgeräts auch die theoretische, ereignislose, mathematische, absolut gleiche Intervallabstände aufweisende Temperatur weder gestimmt noch wahrgenommen.
Im Grunde muss man sich ja fragen, wieso es bis ins 20. Jahrhundert hinein möglich war, den Tonarten Gemütsstimmungen zuzuordnen, obschon doch "gleichstufig" gestimmt wurde. Eine Tonarten-Charakteristik entsteht doch erst durch ungleiche Tonstufen. 4 cent Abweichung von der Gleichstufigkeit ist nicht wenig, und wenn man allein diesen Wert bewusst einsetzt, dann kann man gebräuchliche Terzen mit besserer Reinheit ausstatten als weniger gebrauchte, wie es besonders beim Stimmen von Klavieren immer praktiziert wurde und wird. Man kann sich der Frage nach der richtigen oder günstigen Temperatur nicht entziehen. Jedenfalls gibt man ein für die musikalische Gestaltung wirksames Mittel aus der Hand, wenn dieses Thema außer Acht gelassen wird.
Neben den vielen "wohltemperierten" Stimmungen, welche die Benutzung aller Tonarten des Quintenzirkels zulassen, von Werckmeister bis nach Gehör gestimmter Gleichstufigkeit, nimmt die prätorianische Mitteltönigkeit eine Sonderstellung ein. Diese über viele Generationen bis ins 18. Jahrhundert hinein im gesamten Abendland gebräuchliche Temperierung mit ihren 8 reinen Terzen hat eine geradezu ungeheure Wirkung auf den Klang von Zungen- und Terzregistern und erzeugt einen Sound, wie er bestenfalls im Ensemblegesang oder beim Streichquartett entstehen kann. Die Chromatik bei Sweelinck und Frescobaldi ist dort atemberaubend aufregend. Das starke Erlebnis mit der strengen prätorianischen Mitteltönigkeit (das wohl etwas Übung im Hören voraussetzt) hatten wir durch den Neubau einiger kleiner Instrumente und besonders prägend durch die Restaurierung der Wiese-Orgel von 1727 in Beukirchen bei Malente, Schleswig-Holstein (einmanualige Orgel mit Principal 8', vier Zungen und "kurzer" Octave").
Leider ist die Mitteltönigkeit für jüngere Barockliteratur nicht mehr zu gebrauchen, weshalb wir in unseren neuen Orgeln meistens moderate ungleich-schwebende Temperaturen einsetzen, Stimmungen etwa nach Werckmeister oder Gräf-Sorge, bei romantischen Orgeln eine der gehörmäßig gelegten Gleichstufigkeit ähnliche Temperierung.

R.M.: Wir hatten in unserem Gespräch immer nur den Orgel-Neubau behandelt, bei dem Sie von der Planung des Instruments bis hin zu seiner Fertigstellung alles neu gestalten und herstellen. Aber wie sieht es mit dem Restaurieren von Orgeln aus?

J.R.: Seit 50 Jahren baue ich Orgeln und meine, alle Details einer Orgel und deren Funktion recht genau zu kennen. Beim Umgang mit historischen Orgeln werde ich aber durch die Begegnung spannender Neuigkeiten immer wieder eines Besseren belehrt. Orgelbauer waren zu allen Zeiten erfinderisch, wodurch jede Restaurierung zu einer Entdeckungsreise wird. Nichts ist lehrreicher, als an historischen Orgeln zu arbeiten.
Schon in Sachsen, Thüringen und Österreich arbeitete ich an Restaurierungen. In Frankreich arbeitete ich bei Wartungsarbeiten an historischen Orgeln mit. Die erste größere Restaurierung in eigener Regie betraf die Glis-Orgel der Erlanger St.-Markus-Kirche, die Sie als Kirchenmusiker an diesem Instrument ja genau kennen.
Diese Orgel wurde im Jahr 1733 von Johann Glis für die reformierte Kirche in Erlangen als einmanualiges Instrument gebaut. Trotz Kriegsabgaben und Umzug in die Markus-Kirche blieb das gesamte Pfeifenwerk des Manuals erhalten, einschließlich des Prospekts mit dem Principal 8'. Es war ein starkes Erlebnis, wie im Umgang mit diesem Instrument der Erbauer mit seinen Gedanken und seinem handwerklichen Können immer lebendiger wurde. Es entstand ein richtiger Dialog mit ihm, wir verstanden ihn im Fortgang der Arbeit immer besser und glaubten auch, dass er uns verstand, als wir der Pedal-Windkoppel einige Ventile und Töne hinzufügten und in dem neu zu bauenden Pedal ein kleines zweites Manual integrierten.

R.M.: Diese Arbeit ist Ihnen gelungen und die Orgel hat in ihren 13 Jahren nichts von ihrer Klangschönheit verloren. Ich habe sogar den Eindruck, dass sie im Laufe der Zeit reifer geworden ist.

J.R.: In der Tat verändert sich Material, das ständig gleichen Schwingungen ausgesetzt ist, ein Phänomen, das viele Orgelbauer bestätigen und meines Wissens im Geigenbau mit Messungen nachgewiesen wurde.
In diesem Jahr hatten wir wieder ein im Jahr 1733 gebautes Instrument in der Werkstatt, aus der Stadtkirche Preetz in Schleswig-Holstein. Nicht so gut erhalten, dafür in Teilen älter. Wir fanden aber mit dem Erbauer Plambeck keine so dialogfreudige Ebene, wie sie sich mit Glies einstellte. Es waren auch nur wenige Teile vom Orgelbauer und Hufner Plambeck erhalten geblieben. Spannend und lehrreich war diese Arbeit nicht minder, zumal ein sehr schönes Gehäuse mit Hauptwerk, Rückpositiv und 16-Fuß-Pedaltürmen mit rund gehobelten Holzpfeifen, in Teilen aus dem Jahr 1573, vorhanden war.

R.M.: Und welche Arbeiten stehen weiter an?

J.R.: Im Moment planen wir gerade eine neue dreimanualige Orgel für die evangelische Kirche in Altensteig, welche in das historische Gehäuse des Orgelbauers Weinmar eingebaut wird. Weitere Neubauten werden in nächster Zeit für Bayreuth, Marktzeuln, Köln, Harrislee, Obernburg und Bamberg ausgeführt. Auch haben wir Hausorgeln nach Kobe (Japan) und Stuttgart in Auftrag sowie Truhenpositive und Portative (Organetti).

R.M.: Welche Pläne haben Sie persönlich für die Zukunft?

J.R.: Ich wünsche mir, dass unsere Werkstatt so lebendig bleibt, wie sie jetzt ist, dass die große Motivation meiner Mitstreiter erhalten bleibt, dass bewährte Traditionen gepflegt werden in weiter Offenheit für künftigen Wandel. Denn Unbeweglichkeit ist der Anfang vom Ende. So, wie wir kürzlich an einem neuen System einer "durchschlagenden Zunge" arbeiteten und in der neuen Orgel für die evang.-luth. Kirche Eckenhaid verwirklichten, einer "gewendeten Zunge", werden wir uns künftig z.B. mit druckpunktfreier Ventilöffnung bei der Tonkanzellenlade befassen. Dabei wollen wir immer bedenken, dass die einfache Lösung, auch wenn sie einem nicht so leicht zufällt, der komplizierten gegenüber lebensfähiger ist.
Mit wachsendem Alter der Werkstatt wächst der Kundenkreis und die Verwaltung dehnt sich kontinuierlich.
Somit werden meine Frau und ich stets ausreichend beschäftigt sein. Darüber hinaus habe ich weiterhin großes Interesse an allen konstruktiven und klanglichen und besonders auch architektonischen Fragen.

R.M.: Der holländische Organologe Bernhard Edskes hat einmal versucht, die Charakteristika einer J.S. Bach entsprechenden Orgel mit der Trias "Gravität, Brillanz und Poesie" zu umschreiben. Dies könnte für jede gute Orgel gelten, und es sind Begriffe, die auch dem menschlichen Wesen verwandt sind, wenn man damit den aufrechten Gang, Geist und Witz sowie Emotion versteht. Dies finde ich in Ihren Orgeln verwirklicht, und wir können Ihnen, Herr Rohlf, nur wünschen, dass Sie in diesem Sinne weiter ihre unverkennbar charakteristischen, qualitativ hochwertigen, vor allem lebendigen, wenn auch nicht minder streitbaren Instrumente bauen. Aber diese Qualifizierungen galten einst schon für die Orgeln Gottfried Silbermanns.

Das Gespräch führte Reinhold Morath, Erlangen
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